„Der 1. April ist ein Tag der Überraschungen, über die sich der eine ärgert, der andere freut – je nach Temperament und Lebenslage. Und jener ewig denkwürdige 1. April, dessen hundertste Wiederkehr ein ganzes Volk in festlicher Dankbarkeit begeht, war dazu bestimmt, der Menschheit eine Überraschung zu bescheren, die draußen manch einem neidischen Nachbarn arges Kopfweh bereitet hat, daheim aber all den Millionen treuer Deutscher Herzen, denen keine Parteibrille den freien und frohen Ausblick zur Höhe und Größe trübt, Veranlassung zu jener stolzen Freude geworden ist, die heute wieder unser aller Herzen bewegt und die der Große von Weimar in das lapidare Wort gefasst hat: „Er war unser!““↓1
Mit Worten wie diesen beginnen eine ganze Reihe von Bismarck-Biografien, die um das Jahr 1915 herum erschienen sind.↓2 Viele bismarcktreue Autoren versuchten später, sein Geburtsdatum zu nutzen. Sie interpretierten für die Leserschaft, dass es etwas Besonderes sei, dass der Eiserne Kanzler genau ein Jahr nach dem Tage geboren ist, an dem Napoleon nach der verlorenen Schlacht um Paris gestürzt wurde. Napoleon wurde dabei gern, im Gegensatz zu dem „Willensmenschen und Interessenvertreter des Volkes“ Bismarck, als ein „ehrgeiziger Phantast ohne Bezug zum Volk“ charakterisiert.↓3 Dies zeugt von der seinerzeitigen „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschland und Frankreich, auch gerade in Bezug auf den damals tobenden Ersten Weltkrieg.
Bezüge zu Schiller
Das Zitat „Er war unser“ stammt aus dem „Epilog zu Schillers „Glocke““, welcher von dessen Freund und Weggefährten Goethe verfasst worden war, wodurch dieses Zitat berühmt geworden ist. Goethe bezog dieses Zitat direkt auf die Einwohner von Jena und Weimar, um Schillers Zugehörigkeit deutlich zu machen.↓4 Hier wird dieses Zitat in gleicher Weise und an Goethes Absicht angelehnt verwendet, um Bismarcks Zugehörigkeit zum deutschen Volk hervorzuheben.
Dieser vorgenommene Bezug von Schiller zu Bismarck ist keine Seltenheit. Im 19. Jahrhundert galt Schiller als eine nationale Identifikationsfigur des deutschen Bürgertums. Den Höhepunkt dessen stellten die Schillerfeiern im Jahr 1859 dar, die die Menschen von einem geeinten Deutschen Reich träumen ließen und Schiller zum symbolischen Führer der Deutschen erhoben. Nach dem Ende der Einigungskriege und der Reichsgründung 1870/71 schien das Bürgertum dann in Bismarck seinen realen politischen Führer gefunden zu haben.↓5
Der Autor
Die hier vorliegende Bismarck-Biografie, aus deren ersten Seiten auch das Anfangszitat stammt, wurde von Arnold Stiebritz verfasst und ist im Jahr von Bismarcks 100. Geburtstag im Leipziger „Hesse & Becker“ Verlag erschienen.↓6 Das Werk ist der erste Teil der Reihe „Bannerträger für Deutschtum und Vaterland“. Ihm folgten zwei weitere Biografien zu Alfred Krupp und Helmuth von Moltke. Der wahrscheinlich in Leipzig ansässige Autor widmete das Buch dem Leipziger Professor „Hermann Schuster“.
Das Erscheinen des Buches in dieser Reihe sowie seine noch näher zu erläuternden Darstellungen zu Bismarck lassen auf eine eher nationalkonservative oder nationalliberale politische Gesinnung von Stiebritz schließen. Für Letzteres könnte sprechen, dass er auch Bismarck in Teilen liberale Ansichten zuspricht.↓7 Aufgrund der Tatsache, dass über Stiebritz keine weiteren Informationen vorliegen, muss man annehmen, dass er keine bedeutende Stellung innehatte und die Bismarck-Biografie seine einzige Schrift geblieben ist. Möglicherweise ist er auch kurz nach dem Erscheinen selbst im Krieg gefallen. Es wäre auch möglich, dass es sich bei dem Namen „Arnold Stiebritz“ um ein Pseudonym handelt.
Schwerpunkte
Stiebritz unterteilt seine Biografie in drei Überkapitel „Lehrjahre, Wanderjahre und Meisterjahre“, eine Einteilung, die einem handwerklichen Beruf nachempfunden ist. Die „Lehrjahre“ beziehen sich auf Bismarcks Kindheit, seine schulische und berufliche Ausbildung, die Beamtenjahre und Militärzeit, seine Ehe sowie seine Zeit als Agrarier. In den „Wanderjahren“ werden Bismarcks erste parlamentarischen Erfahrungen sowie seine Diplomatenzeit in St. Petersburg und Paris erläutert. Zu guter Letzt richtet konzentriert sich der Autor in den „Meisterjahren“ auf Bismarcks Schaffenszeit in der höheren Politik als preußischer Ministerpräsident und deutscher Reichskanzler. Ebenso wird ein Blick auf seinen letzten Lebensabschnitt nach den Regierungsjahren geworfen.
Bismarcks Regierungszeit an der Spitze des Deutschen Reiches werden nur knapp 15 Seiten gewidmet. Auf insgesamt 120 Seiten berichtet Stiebritz von Bismarcks ersten politischen Kämpfen in den Parlamenten bis zum „Höhepunkt“ seiner politischen Karriere, nämlich der Reichsgründung. Die Zeiten und Ereignisse davor und danach erscheinen geradezu unwichtig. Hiermit soll Bismarcks „Lebenswerk“, die Reichsgründung, besonders betont werden.
Vergleich mit Luther und Goethe
In der Charakterisierung sieht man schnell, in welche Richtung die Beschreibung Bismarcks tendieren soll. „Luther – Goethe – Bismarck: wo ist die Nation, an deren Himmel auch nur ein ähnliches Dreigestirn leuchtete?“↓8 Stiebritz‘ Werk, welches diesen Satz in seiner Einleitung führt, ist durchzogen von weiteren und ähnlichen Äußerungen. Der Autor zieht einen ständigen Vergleich Bismarcks mit zwei der wohl berühmtesten Deutschen der Geschichte und versucht dies auf möglichst viele Stellen im Leben des Kanzlers zu beziehen. So berichtet Stiebritz über Bismarcks Studentenfahrten: „(…) und es ist ein wundersamer Zufall, daß sie den Dritten der größten in die Wartburg mit ihrer Lutherkapelle und in das kaum verwaiste Goethehaus nach Weimar führen“.↓9 Dies ist nur einer von vielen Vergleichen, die einen direkten Bezug zu Luther und Goethe herstellen. Stiebritz bezeichnet den Reichskanzler als „größten Sohn unserer Nation“, „unseren Helden“ oder den „Genius“. Er lobpreist den „Eisernen Kanzler“ geradezu als eine mythische Figur, als das Besondere in der deutschen Geschichte: als einen Mann, der nur mit Goethe als einem der bekanntesten deutschen Dichter und Literaten, sowie mit Luther als dem Begründer der christlich-protestantischen Religion, die in Preußen vorherrschend war, auf einer Stufe stand. Stiebritz zieht eine „Traditionslinie“ zwischen den dreien.
Die Gegenüberstellung von Goethe und Bismarck wurde auch von den französischen und britischen Intellektuellen im Krieg verwendet, um den deutschen Gelehrten und Schriftstellern als Reaktion auf ihre Schriften zur Rechtfertigung des Krieges Militarismus vorzuwerfen. Die deutschen Intellektuellen wehrten sich heftig gegen diese Vorwürfe und sahen ihrerseits darin einen Versuch, „die Deutschen abermals zu entzweien“ und eine „Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln (…) mit dem Ziel, die gerade erst gewonnene Einheit und Einigkeit der Deutschen zu zerstören.“↓10
Die Verbindung Bismarcks mit diesen historischen Figuren ist ein Phänomen, welches in vielen Biografien des beginnenden 20. Jahrhunderts zu finden ist. Gleichzeitig trennt diese „Traditionslinie“ endgültig die Verbindung zwischen dem historisch realen Bismarck und dem „gewollten“ Bismarck, da nicht mehr nur auf historische Tatsachen geachtet wird.↓11
Ein Mensch wie jeder andere
Stiebritz versucht Bismarck zu einer Identitätsfigur zu machen, in welcher sich jeder einzelne in der Bevölkerung wiedererkennen konnte, um als Nation Selbstvertrauen, Ausdauer und Mut zu finden.↓12 „Denn auch der große Bismarck ist insofern ein echter deutscher Junge gewesen, als er, weit davon entfernt, sich als Musterknabe zu präsentieren, mit der Mehrzahl seiner Altersgenossen die tiefgegründete Abneigung gegen die so hochansehnliche und segensvolle Einrichtung des modernen Kulturstaats, die man Schule nennt, geteilt hat.“↓13 Bismarck wird hier von Stiebritz eine Eigenschaft zugeschrieben, die wohl der größte Teil der Bevölkerung in dem Alter geteilt haben dürfte, nämlich die Ablehnung der Schule und eine ausbleibende Lust zu lernen. Bismarck sei also ein Mensch wie jeder andere gewesen, mit den gleichen Schwächen. Auch die schon angesprochene Einteilung in die drei Überkapitel, die Bismarcks Karriere mit der eines Handwerkers gleichsetzt, macht ihn mit dem „kleinen Bürger“ identifizierbar.
Eine weitere typische Eigenschaft, die dem Kanzler zugeschrieben wird, ist die des einfachen „Agrariers, der doch wie kaum ein anderer in jahrelanger, unverdrossener, ebenso hingebender wie gesegneter Arbeit, mit der heimischen Scholle und ihren Interessen verwachsen war und so oft in seiner staatsmännischen und parlamentarischen Tätigkeit mit Wort und Schrift für die Lebensfragen dieser Kreise mit leidenschaftlichen Eifer eingetreten ist (…).“↓14
Die Charakterisierung Bismarcks sollte also immer eine gewisse Einfachheit behalten, damit sich möglichst große Teile der „einfachen“ Leserschaft darin wiederfinden konnten. Bismarcks landwirtschaftliche Tätigkeiten passten sich hier wunderbar ein, der „Eiserne Kanzler“ bewirtschaftete ja auch in der Realität einige seiner Güter in eigener Verwaltung. Laut Stiebritz behält Bismarck diese Eigenschaften auch in seinen Regierungsjahren bei, denn während der deutsche Markt mit billigem Getreide aus dem Ausland geflutet wurde, war es „(…) Bismarck, der in diesen wirtschaftlichen Sorgen mit den Landwirten sich solidarisch fühlte.“↓15
Während seiner Zeit in Sankt Petersburg fühlte Bismarck sich angezogen von der Diplomatengattin Katharina Orlow und verbrachte in Biaritz eine romantische Zeit mit ihr.↓16 Es ist nicht bekannt, ob Stiebritz zu seiner Zeit davon gewusst hat, jedenfalls findet dieses in seinem Werk keinerlei Erwähnung. Es dürfte sich um eine Verfehlung gehandelt haben, die wohl aufgrund der moralischen Vorstellungen zu der Zeit auch nicht aufgegriffen worden wäre. Stiebritz schreibt stattdessen, Bismarcks Ehe mit Johanna von Puttkamer sei „das eine, das uns zeigt, wie es in deutschen Landen selten eine glücklichere Ehe gegeben hat als die Bismarcks.“↓17
Der königstreue Preuße
In zahlreichen Bismarck-Biografien stellt der „Eiserne Kanzler“ gleichzeitig auch die Verkörperung des Deutschtums, des deutschen Wesens und des deutschen Geistes dar.↓18 Dies ist auch bei Stiebritz zu finden, zuerst allerdings bezogen auf seine Einstellungen zu Preußen. Bismarck wird als „königstreuer Preuße“ beschrieben, „für den sein Königtum eine stolze, festumhegte Burg war (…)“.↓19 Ebenso macht Stiebritz ihn zum „preußischen Junker“ und „Aristokraten“, der „(…) sich zu seiner Kaste bekannte (…)“.↓20
Nicht umsonst wurde die oben beschriebene Aufteilung des Buches vorgenommen, in der die Kanzlerzeit Bismarcks so gut wie keine Rolle spielte, sondern Bismarcks Leben eng mit dem Aufbau und der Schaffung des Reiches verknüpft wurde. Bismarcks Leben bildete praktisch die Brücke für Deutschland zwischen 1815 und 1871. Hier spielte den Bismarckbiographen sein Geburtsdatum wunderbar in die Hände. Ganz im Geiste des Historismus wurde Bismarck dargestellt als der starke Mann, der das Deutsche Kaiserreich geschaffen hat.
Appell zum Siegen
„Nur ein Bismarckerbe bleibe in der Gegenwart unverrückt bestehen und geleite uns in die kommenden Tage: Die Treue im Dienste des Vaterlandes, wie sie der Leitstern seines Lebens war.“↓21
„In diesem Zeichen werden wir siegen. Und im Siegesjubel werden wir dankbar des Mannes gedenken, der uns das gegeben hat, was die Väter schmerzlich entbehrten und was die Söhne und Enkel in Fülle haben werden: den Stolz auf Deutschlands Größe und den Glauben an seine Zukunft in der Welt!“↓22
Mit diesen Worten beschließt Stiebritz sein Werk und nimmt damit Bezug auf die Situation des Ersten Weltkriegs. Die verschiedenen politischen Kräfte im Kaiserreich und der Weimarer Republik bis hin zu den Nationalsozialisten hatten schon versucht, in Bismarck die Rechtfertigung ihrer Ziele zu sehen, so auch zuvor schon Stiebritz. Bismarck hatte in seiner Regierungszeit stets versucht, durch die Rückversicherungsverträge, das Dreikaiserabkommen und die Isolation Frankreichs, den Frieden in Europa zu wahren und einen neuen großen Krieg zu verhindern.↓23 Ganz anders Stiebritz: Er ging davon aus, dass dieser Krieg in Bismarcks Sinne gewesen wäre und daher für dessen Lebenswerk gewonnen werden müsse. Bismarck sollte als ein Mahner dafür auftreten, dass die unter ihm errungene Einheit Deutschlands nach außen hin verteidigt werden müsse.↓24 Durch das biografische Werk von Stiebritz sollte diese Lesart den Menschen vor Augen gehalten werden.
Der Historiker Lothar Machtan drückte es sogar so aus, dass den Massen während des Ersten Weltkriegs durch die zahlreich erschienenen Medien suggeriert wurde, Bismarck sei als nationalheiliger Geist von den Toten auferstanden, zöge den ausrückenden Heeren voran und führe sie zum Sieg.↓25 Wilhelm II. hatte mit der Berufung des Helmuth von Moltke dem Jüngeren an die Spitze des Generalstabs 1906 die personell-symbolische Lücke schließen wollen, die Bismarck nach seinem Abgang 1890 hinterlassen hatte. Auf diese Weise wollte er die Sehnsucht von großen Teilen der Bevölkerung nach einer starken Figur in der politisch-militärischen Spitze erfüllen und somit das Vertrauen in ebendiese stärken. Bismarck ließ sich aber nicht so einfach ersetzen und stellte, wie Biografien, Postkarten, Münzen und weitere Kultgegenstände zeigen, immer noch die herausragende Persönlichkeit dar. Nachdem Moltke an der Westfront gescheitert und entlassen worden war, war die Lücke erst Recht sichtbar. Mit dem Fortschreiten des Krieges wurde auch der Ruf nach einer neuen Zentralfigur immer lauter, was Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg für sich ausnutzte. Im Oktober 1915 wurde er in das litauische Kowno versetzt, was fern der Heimat lag. Um ihn in Deutschland nicht in Vergessenheit zu geraten, startete eine groß angelegte Selbstinszenierungskampagne, zu der auch eine hölzerne Hindenburg-Statue gehörte, die vor dem Reichstag, direkt neben der noch dort stehenden Siegessäule und dem Bismarckdenkmal aufgestellt wurde. Gegen eine Spende konnte man Nägel hinein hauen, so dass die Statue mit der Zeit eisern wurde. Hindenburg wurde durch die Nähe seiner Statue zum Bismarckdenkmal und mit Hilfe seines Charismas zu einer Art „neuem Bismarck“ und einer neuen Führungsfigur im Krieg, wofür sein groß herausgestellter Sieg bei Tannenberg von Nutzen war.↓26
Bismarck und Wilhelm II.
Möglicherweise war Arnold Stiebritz selbst ein Anhänger des Kaisers Wilhelm II. oder er konnte es sich einfach nicht leisten, diesen in einem negativen Bild darzustellen. Er bemühte sich jedenfalls, die großen Differenzen, die es zwischen Kaiser und Kanzler gegeben hatte, abzumildern. Stiebritz kommt nicht umhin zuzugeben, dass zwar zwischen den beiden ein gewisser Dissens geherrscht habe , sie sich schließlich aber im März 1890 auf eine geordnete Machtübergabe Bismarcks an seinen Nachfolger im Mai oder Juni geeinigt hätten. Aufgrund der Beeinflussung „anderer“, die dies in „geschickter Regie“ vermittelt hätten, habe Bismarck dann aber direkt sein Entlassungsgesuch eingereicht.↓27 In der heutigen Forschungsliteratur wird das Ganze etwas anders dargestellt. Die Differenzen wurden immer größer, so dass Bismarck schließlich vom Kaiser am 17. März die unmissverständliche Nachricht erhielt, sein sofortiges Entlassungsgesuch einzureichen.↓28
Ebenso stellt sich die Situation mit der „Versöhnung“ von Wilhelm und Bismarck dar. Bei Stiebritz sieht es nach einer tatsächlichen persönlichen Versöhnung aus: „Der Monarch und der Patriarch unseres Volkes hatten sich wiedergefunden.“↓29 Auch hier ist die Darstellung in der heutigen Literatur etwas anders. Dem Kaiser wurde geraten, sich mit Bismarck wegen dessen immer schlechter werdenden Gesundheitszustands zu versöhnen. Diese Versöhnung war rein formell und beide änderten auch nicht ihre jeweils schlechte Meinung über den anderen.↓30 Zwar ist auch hier nicht genau bekannt, ob Stiebritz über alle Einzelheiten hierzu verfügte, dennoch dürfte auch das wohl eher negative Verhältnis zwischen Kanzler und Kaiser zu seiner Zeit bekannt gewesen sein, so dass ihm bei diesem sensiblen Thema ein Spagat gelingen musste, um die Balance zwischen beiden zu halten.
Soldaten als Zielgruppe
Die Bismarck-Biografie von Stiebritz richtete sich an eine sehr breite Schicht. Eine Zielgruppe könnten auch im Jahr 1915 und in den folgenden Jahren die Frontsoldaten gewesen sein, wie eine Widmung in dem für diese Arbeit vorliegendem Exemplar aufzeigt (siehe Bild).
„Meinem lieben, teuren Sohn Hugo
im Feindesland
gewidmet
mit den herzlichsten Glück- und Segens-
wünschen zum Geburtstag u. der festen
frohen Hoffnung auf gesundes Wiedersehen
nach siegreichem Frieden in der lieben
Heimat von einer treuen Mutter
Weimar d. 2. Juli 1915. Rosa Schütz.“
Viele Eltern schickten ihren Söhnen damals Literatur an die Front. Neben den Kultur- und Entspannungsbedürfnissen hatte dies auch soziale Anerkennung und Distinktion, also soziale Unterschiede zugrundeliegen.↓31 Durch die Lektüre zeigte man seine kulturelle Zugehörigkeit, sein geistiges Niveau, in welche Richtung man dachte und worüber man mit den anderen reden wollte. Und indem man nichts Weibliches oder Lyrisches las, drückte man auf die Weise gleichzeitig seine Männlichkeit aus.↓32 Gerade die politische und historische Literatur, zu der man diese Bismarck-Biografie einordnen kann, erfüllte hier wichtige Zwecke. Mit ihr sollte auch der Krieg begründet und ihm sein Platz in der Geschichte zugewiesen werden bzw. warum er geführt und warum er gewonnen werden musste.↓33
Fazit
Stiebritz sorgte mit seiner Biografie dafür, dass Bismarck durch die Verknüpfung der Mythisierung mit seinen einfachen Eigenschaften zu einer Identifikationsfigur für die Massen werden konnte. Durch das Hervorheben und direkte Verweben von Bismarcks Leben vor 1871 und der deutschen Geschichte ab 1815 wurde Bismarck mit „dem Nationalen“ gleichgesetzt. Durch die Biografie sollte den Menschen dies zu Zeiten des Ersten Weltkriegs vor Augen geführt werden und sie an ihre Pflichten für den Sieg erinnern.
Anmerkungen
1 Stiebritz, Arnold: Der eiserne Kanzler. Ein Lebensbild für das deutsche Volk (=Bannerträger für Deutschtum und Vaterland, Band 1, Bismarck), Leipzig 1915, S. 9.
Der „Große von Weimar“ meint Johann Wolfgang von Goethe.
2 Parr, Rolf: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust!“. Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks, München 1992, S. 150.
4 Dann, Otto: Schiller, in: Francois, Etienne; Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte II, München 2001, S. 176-177.
5 Noltenius, Rainer: Schiller als Führer und Heiland. Das Schillerfest 1859 als nationaler Traum von der Geburt des zweiten deutschen Kaiserreichs, in: Düding, Dieter; Friedemann, Peter; Münch, Paul (Hg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 253-255.
8 Stiebritz: Eiserner Kanzler. S. 7.
10 Münkler, Herfried: Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918, Berlin5 2014, S. 248-251.
11 Machtan, Lothar: Bismarck-Kult und deutscher National-Mythos 1890-1940, in: ders.: Bismarck und der deutsche National-Mythos, Bremen 1994, S. 23.
12 Breitenborn, Konrad: Bismarck. Kult und Kitsch um den Reichsgründer, Frankfurt am Main 1990, S. 142.
13 Stiebritz: Eiserner Kanzler. S. 17.
16 Kolb, Eberhard: Bismarck, München² 2014, S. 53.
17 Stiebritz: Eiserner Kanzler. S. 61.
18 Machtan: Bismarck-Kult. S. 25.
19 Stiebritz: Eiserner Kanzler. S. 76.
24 Breitenborn: Kult und Kitsch. S. 152.
25 Machtan: Bismarck-Kult. S. 30.
26 Münkler: Großer Krieg. S. 438-442.
27 Stiebritz: Eiserner Kanzler. S. 206.
29 Stiebritz: Eiserner Kanzler. S. 212.
30 Kolb: Bismarck. S. 131-132.
31 Wierling, Dorothee: Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914-1918, Göttingen 2013, S. 182.