Politische Geschichte und neue Konzepte

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„Politik ist die Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen.“↓1 Diese These war nicht nur für die Politikwissenschaft von entscheidender Bedeutung, sie galt auch bis ins 19. Jahrhundert innerhalb der Geschichtswissenschaft. Für die Politische Geschichte, die etwa zeitgleich mit der Herausbildung des modernen Nationalstaats entstanden ist und die bis ins 20. Jahrhundert als die einzig wahre Form der Geschichtsschreibung angesehen wurde, stand der Staat im Mittelpunkt.↓2 Sie kümmerte sich um Kriege, Gesetze und Entscheidungen, um große Männer, die Geschichte machten.

Für den britischen Historiker John Seeley war „Geschichte vergangene Politik und Politik gegenwärtige Geschichte“↓3. Der deutsche Historiker Leopold von Ranke verlagerte Politik sogar ausschließlich auf die zwischenstaatliche Ebene und definierte so den „Primat der Außenpolitik“.↓4 Im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diente die Politische Geschichte auch zur historischen Legitimation politischen Handelns.↓5 Als Beispiele dafür können die Kriegsschuldfrage nach dem Ersten Weltkrieg und die daraus resultierende Ablehnung des Versailler Vertrags dienen.↓6 Nach dem Ende des Krieges initiierte das Auswärtige Amt die Gründung eines Kriegsschuldreferates, welches eine Revisionspropaganda sowie schlussendlich eine Beseitigung des Versailler Vertrages durch wissenschaftliche Argumentation herbeiführen sollte. 1921 wurden hierfür zwei Unterorganisationen gegründet, der Arbeitsausschuss Deutscher Verbände sowie die Zentralstelle für die Erforschung der Kriegsschuldfrage. Die Zentralstelle versammelte eine große Anzahl namhafter Historiker, darunter Hans Rothfels und Wilhelm Mommsen, die die Ablehnung des Vertrages wissenschaftlich untermauern sollten.↓7

Die Politikgeschichte teilte zentrale Prämissen des Historismus, der die Geschichtlichkeit des einzelnen Menschen in den Vordergrund rückt.↓8 Damit steht sie auch im Einklang mit den in diesem Projekt untersuchten Kultgegenständen zu Bismarck, da diese ebenfalls den „Eisernen Kanzler“ allesamt als den „großen Mann“ zeigen, der Geschichte macht.

Der Kulturbegriff

Im 19. Jahrhundert kamen aber auch erste Widerstände gegen die Politische Geschichte auf. Mehrere Reformströmungen, denen etwa der Historiker Lucien Febvre angehörte, bemühten sich, den Geschichtsbegriff um gesellschaftliche und soziale Dimensionen zu erweitern.↓9 Historiker wie Karl Lamprecht oder Jacob Burckhardt wollten den im vorherigen Jahrhundert aufgekommenen Kulturbegriff nutzen, und so entweder als Alternative oder als Gegenbegriff zur Politischen Geschichte eine Kulturgeschichte zu erschaffen.↓10

Der Kulturbegriff erlangte dadurch zentrale Bedeutung für die aufklärerische Geschichtsschreibung.↓11 Die unterschiedlichen Historiker entwarfen verschiedene Konzepte, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Je nach Konzept sollte die Politische Geschichte neben der Kulturgeschichte existieren, sich ihr unterordnen oder komplett von ihr abgelöst werden. Unklar blieb dabei oft, was unter „Kultur“ zu verstehen sei.↓12 Für Jacob Burckhardt war die Kultur die Gesamtheit der menschlichen Lebensverhältnisse. Der Historiker Eberhard Gothein setzte den Begriff der Kulturgeschichte mit der allgemeinen Geschichte gleich.↓13

Neue Konzepte

Obwohl die neuen Konzepte durchaus auch Anhänger fanden, führten Ereignisse, wie die Weltkriege, immer wieder zu einem Erstarken der Politikgeschichte. Dies resultierte daraus, dass die Politische Geschichte am ehesten in Einklang mit einer Staatsräson stehen konnte, etwa mit der staatlichen Haltung zur Kriegsschuldfrage der Weimarer Republik oder der Propaganda im Dritten Reich. Und so dauerte es zumindest in Deutschland bis in die 1960er Jahre, ehe neue Geschichtskonzepte eine größere Vielfalt in die Geschichtswissenschaft brachten und es merkliche Bestrebungen gab, den „Primat der Politischen Geschichte“ abzulösen.↓14 Aber obwohl die Politische Geschichte immer wieder für tot erklärt worden ist, reduzierte sich ihr Anteil nur sehr langsam und sie taucht bis heute in der Geschichtswissenschaft auf und wird durch weitere Theorien und Methoden erneuert.↓15

Neue Konzepte für eine Politische Geschichte fanden sich zuletzt etwa in den Sammelbänden „Neue Politikgeschichte“ oder „Kulturgeschichte des Politischen“.↓16 Allen neuen Konzepten liegt in erster Linie eine Dekonstruktion des bisherigen Politikbegriffs zugrunde, wie er praktisch über Jahrhunderte verwendet wurde und bis heute wird.↓17

Neuer Politikbegriff

Der neue Politikbegriff richtet sich nicht mehr nur an die Herbeiführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen, sondern soll vor allem die Semantik, die Sprache und das gesellschaftliche Umfeld berücksichtigen.↓18 Unter Politik werden nicht mehr die „großen Männer“ und Kriege zwischen Staaten allein betrachtet, sondern es werden kollektive Erfahrungen und kollektives Handeln der Gesellschaft mit einbezogen.↓19 Die Rolle der Medien soll ebenso untersucht werden, wie die Bedeutung von Ritualen und Kommunikation.↓20 Auch Bevölkerungsgruppen und –schichten, die bisher von der politischen Geschichtsschreibung ausgelassen wurden, werden mit einbezogen, wie etwa Frauen oder etwa Personen, die in vorherigen Jahrhunderten dem „dritten Stand“ zugerechnet worden wären.↓21

Angesichts der immensen thematischen Erneuerungen stellte der Historiker Christoph Cornelißen fest, dass sich kaum ein anderes Feld der modernen Geschichtswissenschaft sich so offen gegenüber anderen Teilfächern und Nachbardisziplinen der Geschichtswissenschaft verhalte, wie die politische Geschichte. Der Preis dieser Öffnung habe zu einer inhaltlichen und methodischen Unbestimmtheit beigetragen, allerdings hat die daraus resultierende Offenheit jedoch in der jüngeren Zeit zu einer integrativen historischen Betrachtungsweise geführt.↓22

 

 

 Fussnoten:

1 Zitiert nach Frevert, Ute: Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: dies.; Haupt, Heinz-Gerhard (Hrsg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Forschung, Frankfurt am Main 2005, S. 12.

2 Weichlein, Siegfried: Politische Geschichte, in: Stefan Jordan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 239.

3 Seeley zitiert nach Cornelißen, Christoph: Politische Geschichte, in: Ders. (Hg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung, Frankfurt am Main³ 2004, S. 136.

4 Weichlein: Politische Geschichte, S. 239-240.

5 Cornelißen: Politische Geschichte, S. 134.

6 Weichlein: Politische Geschichte, S. 240.

7 Siehe hierzu Heinemann, Ulrich: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983.

8 Weichlein: Politische Geschichte, S. 239.

9 Cornelißen: Politische Geschichte, S. 139.

Weichlein: Politische Geschichte, S. 240.

10 Cornelißen: Politische Geschichte. S. 139; Daniel, Ute: Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, 4. verbesserte und ergänzte Auflage, Frankfurt am Main 2005, S. 200-207 u. 210-213.

11 Ebd. S. 198.

12 Ebd. S. 196.

13 Ebd. S. 200-207.

14 Cornelißen: Politische Geschichte, S. 140.

15 Ebd. S. 133-134.

16 Siehe Anm. 1 und 17.

17 Stollberg-Rillinger, Barbara: Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen, in: Dies. (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen (ZHF-Beiheft 35), Berlin 2005, S. 13.

18 Frevert: Neue Politikgeschichte, S. 21-26.

19 Suter, Andreas: Kulturgeschichte des Politischen – Chancen und Grenzen, in: Barbara Stollberg- Rillinger (Hrsg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen (ZHF-Beiheft 35), Berlin 2005, S. 28-29.

20 Frevert: Neue Politikgeschichte, S. 14-21; Weichlein: Politische Geschichte, S. 241.

21 Frevert: Neue Politikgeschichte, S. 13.

22 Cornelißen: Politische Geschichte, S. 143-144.